Halb eins Nachts, Anruf aus der Rettungsstelle: „Hier ist ne alte Dame, die will sich umbringen.“ Aufgelegt, das muss reichen an information – und es läßt viel Raum für meine Fantasie: was erwartet mich? Ich sehe eine zutiefst verzweifelte ältere Frau vor meinem geistigen Auge, entweder laut schreiend oder völlig verstummt – vielleicht todkrank und will deswegen nicht mehr leben? – vielleicht vereinsamt und daher schwer depressiv? – vielleicht auch wütend auf den Ehemann und aggressiv nach dem Motto: „Dann bring ich mich halt um!“ – alles ist denkbar, aber auf jeden Fall was mit viel Action.
Um so erstaunter bin ich, als ich in der Rettungsstelle ankomme: alles ist ruhig, keine Action, alle Pflegekräfte sind verschwunden, ebenso der Rettungsdienst, der die Patientin gebracht haben soll. Im Behandlungszimmer sitzt – allein – eine Frau auf der Liege, etwa 70 Jahre alt, im rosa Nachhemd und geblümten Morgenmantel, plüschige Pantoffeln an den Füßen, die weißen Haare etwas zerdrückt aber gepflegt und lächelt mich an. Sie wirkt so gar nicht lebensmüde….. ich bin verwirrt.
Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, denke ich mir und versuche, das Thema langsam einzukreisen: „Was führt Sie denn hierher?“ frage ich, ein Standardsatz, der eigentlich immer gut funtioniert. „Ich habe keine Ahnung!“, sagt sie ruhig und freundlich. „Ich habe geschlafen und plötzlich war der Rettungsdienst da….“ Wow! Größer könnte die Diskrepanz kaum sein. Ich ziehe das Rettungsdienstprotokoll zu Rate. Das ist ein mindestens 2seitiges Dokument, das die Sanitäter ausfüllen und das – wenn man Glück hat – 2-3 hilfreiche Sätze enthält. In diesem Fall: „Alarmierung durch Frau F. (Betreuerin) wegen Suizidalität. Pat. in der Wohnung angetroffen, kommt freiwillig mit.“
Das riecht mehr nach einem Fall für Hercule Poirot, also beginne ich mit der Zeugenbefragung und unterhalte mich mit der Patientin. Es stellt sich heraus, dass sie eine gebildete alte Dame ist, alleinlebend in bescheidenem Wohlstand und mit etwas Geld auf der hohen Kante. Sie hat allerlei körperliche Gebrechen aber leider keine Angehörigen mehr und deshalb Frau F. engagiert, um sie zu unterstützen bei den Dingen, die so zu erledigen sind. Mir ist schnell klar, dass sie geistig topfit ist und alles andere als lebensmüde. Zu diesem Thema erläutert sie: „Frau F. hat heute meinen Hund mitgenommen und behauptet, ich hätte ihn ihr geschenkt, das stimmt aber gar nicht! Da hab ich dann zu ihr gesagt: ohne meinen Hund wäre ich am liebsten tot! Ich hatte gehofft, sie gibt ihn mir dann zurück, hat sie aber nicht. Sie ist gegangen und hat ihn einfach mitgenommen.“ Nun schaut sie betrübt drein, verständlich. Den Hund hatte sie schon über 10 Jahre, er war ihre Gesellschaft. Sie habe die Lösung des Problems dann erstmal auf morgen verschoben und sei ins Bett gegangen. Und dann kam der Rettungsdienst….
Also telefoniere ich mit Frau F., um Licht ins Dunkel zu bringen. Frau F. zieht alle Register, schildert mir blumig so ziemlich alle Symptome die die Psychiatrie zu bieten hat (kann man ja alles im Internet nachlesen) und die sie bei der Patientin beobachtet haben will. Zudem sei sie „völlig zugedröhnt mit Medikamenten“ (interessant, dass Blutdrucksenker sowas auch machen können…), sei „dement“ und rede „wirres Zeug“. Heute habe sie gesagt, sie wäre „am liebsten tot“. Sie mache sich „große Sorgen“ um die Patientin, ich müsse sie „auf jeden Fall in der Psychiatrie behalten“. Und ich solle mich nicht täuschen lassen: sie könne sich sehr gut verstellen und dann „ganz normal wirken“!
Um die Geschichte abzukürzen: tatsächlich hatte es Frau F. auf das Geld der Patientin abgesehen und versucht, sie wegen „geistiger Unzurechnungsfähigkeit“ in die Klapsmühle abzuschieben. Leider hatte es Frau F. etwas übertrieben mit den Symptomen, die sie der alten Dame angedichtet hat und zudem sind diese natürlich auch immer objektiv prüfbar. So einfach ist das also nicht. Und zum Glück hat die Patientin sich das auch nicht bieten lassen. Frau F. stand später vor Gericht wegen Unterschlagung und übrigens auch wegen Missbrauch von Notrufdiensten. Richtig so!