Angstmonster

Das Angstmonster

Der neue Patient auf der Station ist nicht zu überhören: er steht mitten im Flur und redet – nicht nur laut und deutlich, sondern auch ziemlich viel. Aktuell redet er auf eine Mitpatientin ein, die etwas eingeschüchtert und hilflos wirkt und nicht so recht zu wissen scheint, wie sie sich dem Redeschwall entziehen soll. Kaum bin ich in meinem Zimmer, steht er auch schon vor meiner Tür:

„Sind Sie hier die Ärztin?“ fragt er. Die Antwort wartet er kaum ab, steht schon mitten im Zimmer und spricht weiter: „Ich bin ja gestern gekommen, aber ich weiß gar nicht, wie das hier so funktioniert….Ich hab mich ja auch schon mal mit den anderen Patienten unterhalten, um rauszufinden, ob das hier so das richtige für mich ist. Ja, und mein Zimmernachbar – also der ist ja total träge! Der kommt ja morgens gar nicht hoch, aber so kann man ja gar nicht profitieren von der Behandlung hier! Also habe ich ihn erstmal motiviert, aber ich sage Ihnen: das ist gar nicht so leicht!“

Ich merke schon: auf eine Redepause braucht man nicht zu warten – diesen Menschen muss man unterbrechen, wenn man auch zu Wort kommen will. „Setzen Sie sich doch!“ biete ich ihm einen Stuhl an und er setzt sich. Und redet gleich weiter: „Ja, also ich weiß ja nicht, ob ich hier bleiben sollte, was meinen Sie denn? Aber wissen Sie, meine Frau hat mich dann gestern hergebracht, die kann auch nicht mehr! Und alles nur wegen der Impfung….die hab ich nicht vertragen und dann ging das alles los…Aber wenn ich mir so meinen Zimmernachbarn ansehe, bekomme ich ja wieder Zweifel, ob man hier gesund werden kann….“

Ich frage ihn, was denn eigentlich das Problem ist. „Na, ich habe immer so einen Druck auf der Brust und mein Herz rast und dann bekomme ich keine Luft mehr und meine Finger kribbeln. Und ich denke die ganze Zeit, da muss doch irgendwas sein! Wenn es einem so geht, dann ist da doch was! Aber mein Hausarzt sagt, es sei alles okay….aber ich kann nicht schlafen. Abends ist es besonders schlimm, da gehen alle Gedanken durcheinander und dann bin ich auch ganz nervös….und meine Frau muss die ganze Zeit bei mir sein, sonst dreh ich durch! Aber die kann jetzt auch nicht mehr…. Und wenn ich dann so meinen Zimmernachbarn sehen – aber dem hab ich gesagt: nu komm, geh zur Therapie, sonst kann es doch nicht besser werden! Sagen Sie, sind die Patienten hier alle so?? Da bekomm ich doch schon wieder Zweifel, ob das hier was bringt…die ziehen einen doch dann total runter!“

Dieser Mann hat Angst – große Angst. Ich versuche, den Kontext zu verstehen: „Sie haben etwas von einer Impfung erzählt….“ – „Ja, die hab ich nicht vertragen und Fieber bekommen und seit dem ist das alles! Vorher war alles okay! Aber jetzt kann ich noch nicht mal mehr arbeiten, weil ich so unruhig bin…“ Das erscheint wenig plausibel…..ein einzelnes Ereignis löst vielleicht Panikattacken aus, aber nicht so eine generelle Besorgnis, wie dieser Mann sie ausstrahlt. Er redet, um seine Angst nicht fühlen zu müssen – und diese Angst war sicherlich vorher schon da.

Er bleibt ein anstrengender Patient: immer wieder fängt er mich ab, um etwas zu fragen oder um Rat zu bitten. Doch jede Antwort oder Empfehlung wird sofort wieder angezweifelt und zerredet: „Sagen Sie, was kann man denn gegen die Schlafstörungen tun?“ fragt er zum Beispiel und ich antworte: „Ich kann Ihnen ein leichtes Schlafmittel verordnen.“ – „Hmm, meinen Sie wirklich? Aber Medikamente sind doch eigentlich nicht so gut, oder? Es muss doch auch ohne gehen, oder? Vielleicht sollte ich es erst nochmal probieren?“ – „Ja, sicher.“ antworte ich, worauf er erwidert: „Ach, aber ich wälze mich so im Bett herum und das stört doch bestimmt meinen Zimmernachbarn. Und morgens bin ich so müde und ich würde ja so gerne mal wieder schlafen können…!“

Auch den Mitpatienten fällt dies auf: „Du lässt einen gar nicht ausreden!“ sagt eine Mitpatientin in der Gruppentherapie. „Und sagst immer was dagegen, wenn man dir einen Rat geben will!“ kommentiert eine andere. Der Patient ist ganz betroffen – so wolle er gar nicht sein und zerredet auch dies wieder: „Aber ich hör mir doch alle eure Ratschläge ab, die passen halt nur nicht für mich! Das muss ich dann doch auch sagen, oder?“

Was sein Problem ist, zeigt sich, als er von seiner Kindheit berichtet. Er sei schon als kleiner Junge viel alleine gewesen, vor allem auch nachts und habe dabei oft große Ängste gehabt. Er habe bei seinen Eltern wenig Verständnis für die Ängste gefunden, „ach, da ist doch gar nichts“ oder „nun stell dich nicht so an“ seien die Antworten gewesen. Später verließ der Vater die Familie. Als er zwölf war, sei seine Mutter schwer erkrankt, er habe sie pflegen müssen. Es ging ihr oft sehr schlecht und er habe sich völlig überfordert gefühlt, aber sie wollte nicht, dass er den Rettungsdienst ruft. Er habe oft Angst um ihr Leben gehabt. Sie starb, als er vierzehn war. Ab da habe er keine Angst mehr gehabt, berichtet er. Erst jetzt mit der Impfung seien die Ängste wiedergekommen. Er könne sich das nicht so richtig erklären, eigentlich habe doch alles prima funktioniert!

Natürlich war die Angst nicht weg – Angst ist ein wichtiges Grundgefühl, das alle Menschen haben und das wir auch brauchen. Die Angst schützt uns vor Gefahren, sie ist unsere innere Alarmanlage. Aber wir müssen im Laufe des Lebens lernen zu beurteilen, ob wirklich Gefahr besteht oder ob ein Fehlalarm ausgelöst wurde. Und wir müssen lernen, was wir bei Gefahr tun können, um uns zu retten. Dies konnte der Patient nicht lernen, da ihm keiner gezeigt hat, wie das geht. Einerseits wurde seine Alarmanlage nicht ernst genommen und andererseits erlebte er viele Situationen mit totaler Hilflosigkeit und Überforderung. Die Sirene muss in Daueralarm gewesen sein, das hält kein Mensch aus. Also ignoriert man sie irgendwann – und behauptet, keine Angst zu haben. Gar nicht selten funktioniert das dann plötzlich nicht mehr, oft ausgelöst durch ein scheinbar kleines Ereignis wie hier z.B. die Impfung.

Also haben wir versucht, dem Patienten das zu erklären und dass er lernen muss, mit seiner Angst anders um zugehen – das hat ihm natürlich auch wieder Angst gemacht. Es liegt noch ein langer Weg vor ihm…

Bild von Stefan Keller auf Pixabay

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