Echt jetzt? Um diese Zeit??
Es ist 3:25 Uhr in der Rettungsstelle. Der Mann Mitte 30 ist eindeutig alkoholintoxikiert, kann sich aber noch gut auf den Beinen halten. Seine Kumpels haben ihn gebracht.
„Ja, echt. Ich fang jetzt ein neues Leben an!“ und dann noch „Diesmal zieh‘ ichs durch!“ Das läßt mich aufhorchen….“Wieso gerade jetzt?“ frage ich argwöhnisch. „Meine Freundin hat mich rausgeschmissen….weil ich betrunken bin…“ Stimmt. Das Atemalkoholmeßgerät zeigt stolze 3,25 Promille, was für jahrelanges Training spricht, sonst schafft man es nicht mit soviel Alkohol im Blut noch gerade gehen zu können.
„Naja, heute hab ich mal was mehr getrunken als sonst….“ – Ach ja? – „…aber nur wegen meinem Chef!“ Dann folgt eine ausführliche Erläuterung, dass der Chef ein Ar…. ist und nur deswegen….und dann hat auch noch die Freundin…..das Leben ist gemein!
Aber gut. Eine Entzugsbehandlung ist definitiv das, was der junge Mann vordringlich braucht, das zeigt auch die Blutuntersuchung: deutlich erhöhte Leberwerte, das heißt hier sterben gerade massiv Leberzellen ab….! Der Mann schaut bestürzt, als ich ihm das erläutere, dann sichtlich erleichtert als ich hinzufüge: „In der Regel normalisieren sich die Leberwerte nach ein paar Tagen Abstinenz wieder“ – Alles halb so schlimm sagt sein Gesichtsausdruck.
Ich spule das Aufnahmeprozedere ab: ein paar Standarduntersuchungen, haufenweise Geschreibsel, neuerdings auch noch Warten auf den Corona-Schnelltest. Dann ab auf die Station. Dort ebenfalls haufenweise Geschreibsel und Meßwerte, Standardmedikation aufschreiben, dann ab ins Bett für uns beide – allerdings in getrennten Betten – wegen der Freundin.
Am nächsten Morgen sieht die Welt schon anders aus: Drei Wochen Entzugsbehandlung??? Nee, sooo lange kann er nicht von der Arbeit wegbleiben. Mit 0,00 Promille ist der Chef doch nicht so blöd, die Freundin hat nach vielen Versprechungen eingelenkt (mal wieder?) und außerdem hat er doch morgen noch einen wichtigen Termin, das hatte er in der Nacht ganz vergessen… Jaja, er wird das mal in Angriff nehmen mit dem Alkohol, aber jetzt paßt es gerade gar nicht. Das muß länger geplant werden….und überhaupt….und außerdem.
Also Entlaßprozedere abspulen: wieder Geschreibsel, Unterschriften, zum Glück gibt es Textvorlagen für den Arztbrief. Noch die Adresse der Caritas-Suchtberatung mitgeben (läßt es schnell in der Hosentasche verschwinden) und ein paar motivierende Worte („Wir haben hier auch Kunsttherapie!“), dann ist er weg.
Unvernünftig? Nein, menschlich. Natürlich weiß er, dass er ein Problem hat…ein großes Problem. Er ist ja nicht blöd und er wohnt auch nicht hinterm Mond. Und er weiß auch, dass es schwer wird. Und vielleicht weiß er sogar, dass viele es nicht schaffen. Also schiebt er es vor sich her – Aufschieberitis – oder wer es intellektuell mag: Prokrastination.
Und deswegen nehme ich ihn auch das nächste mal wieder auf, wenn er entziehen will – auch wenn es mitten in der Nacht ist.
Bild von 👀 Mabel Amber, who will one day auf Pixabay